Seit der Einführung kompetenzorientierter Bildungspläne in den deutschen Bundesländern scheint die Frage nach den im Musikunterricht zu behandelnden Werken in den Hintergrund gerückt zu sein. Die Idee eines verbindlichen Kanons für den Musikunterricht erscheint – auch angesichts der Fokussierung auf Kultur als soziale Praxis in der Soziologie (Reckwitz 2016) und in der Musikpädagogik (Elliott 1995; Wallbaum 2005) – als nicht mehr zeitgemäß, so dass die Auswahl geeigneter Werke für den Unterricht nun den einzelnen Musiklehrkräften zukommt. Angesichts immer heterogener werdender Lerngruppen, in denen Schüler*innen unterschiedlicher kultureller Prägungen mit jeweils unterschiedlichen musikalischen Praktiken gemeinsam lernen, stellt die Herausforderung, eine geeignete Musikauswahl zusammenzustellen, die die Interessen aller Schüler*innen berücksichtigt und gleichzeitig eine angemessene Vielfalt neuer Impulse bietet, keine leichte Aufgabe dar.
Produktionsdidaktische Zugänge scheinen hier eine besondere Chance zu bieten, können die Schüler*innen sich beim Improvisieren und Komponieren doch mit ihren eignen musikalischen Vorerfahrungen und Präferenzen einbringen (Wallbaum 2005). Beim ästhetischen Streit (Rolle/Wallbaum 2011) im Rahmen von Gruppenkompositionsprozessen werden sie zudem herausgefordert, sich mit anderen Sichtweisen auseinanderzusetzen, ästhetische Fragestellungen zu verhandeln und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Dies setzt allerdings einen ästhetischen Freiraum voraus, der in Unterrichtsprozessen des Musik Erfindens nicht immer in diesem Maße gegeben ist. Vielmehr spielen sich Kompositionsaufgaben häufig innerhalb eines musikalischen Genres ab, etwa im Falle des sogenannten Response-Ansatzes, der beim Erfinden eigener Musikstücke die Vermittlung Neuer Musik als wesentliches Ziel verfolgt. Lehrkräfte kommen in diesem Zusammenhang zu unterschiedlichen Bewertungen und Strategien beim Umgang mit Material, das ihrer Ansicht nach nicht den stilistischen Rahmenbedingungen entspricht (Voit 2018). Vor dem Hintergrund empirischer Forschungsergebnisse geht der Beitrag der Frage nach, wie der Spagat beim Musik Erfinden im Musikunterricht gelingen kann, an die musikalischen Praktiken der Schüler*innen anzuknüpfen und sie dabei gleichzeitig mit der gebotenen Bandbreite unterschiedlicher Stile und Genres zu konfrontieren.
Vortrag im Rahmen der interdisziplinären Konferenz “Standards – Margins – New Horizons: Teaching Language and Literature in the 21st Century” an der Universität Bielefeld
05.04.2019, 15:00 Uhr